Underachiever (Minderleister) nennen wir die Schüler*innen, die eine deutlich niedrigere schulische Leistung zeigen, als nach der gemessenen intellektuellen Begabung zu erwarten ist.
In diesem Beitrag beziehe ich mich speziell auf den hochbegabten oder überdurchschnittlich begabten Minderleister. In einem späteren Artikel widme ich mich dem Underachiever mit ADHS.
Mit größter Wahrscheinlichkeit muss angenommen werden, dass sie den Umsetzungsprozess von Begabung in Leistung nicht selbst steuern können. Hochbegabte Underachiever können ihre volle Leistungsfähigkeit zurückgewinnen, wenn die Ursachen der Störungen beseitigt sind. Die Ursachen für Minderleistung können vielschichtig sein und es ist wichtig, sich zusammen mit den Eltern und Lehrern auf Spurensuche zu begeben, wie sich die Leistungsfähigkeit des Kindes entwickelt hat und wodurch Beeinträchtigungen entstanden sein könnten.
Mögliche Ursachen für Underachievement
- Ungünstige Umweltfaktoren (soziales Umfeld, Familie)
- Beziehungsstörungen
- Kritische Lebensereignisse
- Hilflosigkeitserfahrungen
- Peers
- Klinische Faktoren
- Psychische Störungen
- ADHS, LRS
- Angst
- Strukturierungsprobleme
- Misserfolgsorientierung (Defizitäre Kausalattribution)
- Schule, Didaktik
- Unterforderung
- wenig oder keine Förderung im Vorschulalter (z.B. defizitärer Betreuungsschlüssel)
„Ihre Tochter ist faul, arrogant und aufmüpfig, sie will sich einfach nicht am Unterricht beteiligen. Sie ist für unser Gymnasium nicht geeignet. Sie brauchen auch nicht zu versuchen Kontakt zum Schulpsychologen aufzunehmen. Meine Kinder sind auch Scheidungskinder und haben alle einen Studienabschluss. Kinder versuchen gerne, die Trennung der Eltern als Ausrede für schlechte Leistungen zu benutzen. Hören sie nicht darauf.“ Die Worte waren damals an meine Mutter gerichtet und klinen noch heute wie Donnerhall in meinem Kopf.
Zu diesem Zeitpunkt drohte mir das dritte „Sitzenbleiben“ (10. Klasse) und damit der Rauswurf aus der ungeliebten Schule. Das zweite Halbjahr war ich ohnehin nur sporadisch anwesend, nach meiner Volljährigkeit im April konnte ich mir die Entschuldigungen selber schreiben. Das Abgangszeugnis war entsprechend mies, nur mein Klassenlehrer meinte, mir aus Mitleid eine drei in Deutsch geben und eine Stellungnahme dazu verfassen zu müssen. In der stand, dass ich eine durchaus intelligente Schülerin mit wenig Struktur und Ehrgeiz gewesen sei.
Tatsache ist, dass ich spätestens ab der 5. Klasse die Laufbahn als Underachiever eingeschlagen habe, unter anderem weil ich nie gelernt habe zu lernen. Es fiel mir halt alles leicht und ich dümpelte mit guten, aber nicht sehr guten Leistungen durch die auf drei Jahre verkürzte Grundschulzeit. Der Übertritt in die 5. Klasse gestaltete sich schon sehr schwierig, in der 6. Klasse blieb ich zum ersten mal sitzen. Der geneigte Leser kann nun einwenden, dass man ja hätte erkennen müssen, wie der Hase läuft. Dazu muss ich sagen, dass wir von den späten 1960er Jahren reden und man damals entweder faul, dumm oder aufsässig war oder alles zusammen, wenn das mit der Schule nicht so hingehauen hat.

Einige Beispiele, wie Kinder bereits im Vor- und Grundschulalter bereits zu Underachievern werden können:
Falsche Deutung der Situation
Jüngere Kinder nehmen in ihrem Lernprozess viele Informationen auf, die sie als typisch für ganz bestimmte Situationen sehen und deuten sie. Sie lernen also nicht nur einen speziellen Inhalt, sondern stellen auch eine Verbindung zu der Situation her, in der sie den Inhalt erworben haben. Zum Beispiel hat Kind1 die Tatsache, dass nur seine Mutter und Großmutter, nicht aber der Vater mit ihm Englisch sprachen, annehmen lassen, dass nur Frauen Englisch sprechen, er sich also weigerte als Junge Englisch zu sprechen. Ebenso Kind2, das in der Schule stockend las, weil alle anderen Schüler*innen stockend lasen. Sie ging davon aus, dass man in der Schule so liest. Kinder erwerben ihr Wissen bereichsspezifisch und sind noch nicht in der Lage, es auf andere Bereiche zu übertragen. Das erklärt, warum ein Kind z.B. in der Situation „Schule“ sein volles Potenzial nicht zeigt, weil es denkt, es sei dort nicht erwünscht und es möchte ja auch nicht auffallen.
Fehlende häusliche Unterstützung
Eltern gehen häufig davon aus, dass wenn ihr Kind besonders begabt ist, es automatisch auch auf allen Gebieten leistungsfähig ist. Dabei brauchen auch diese Kinder Hilfestellungen und Strukturen. Sie können wie jedes andere Kind z.B. ihre Hausaufgaben vergessen und auch sie müssen lernen ihre Schultasche zu packen und ihre Sachen in Ordnung zu halten. Gerade zu Beginn der Schulzeit benötigen sie häusliche Unterstützung, um mit den Anforderungen der Schule zurecht zu kommen. Das müssen nicht zwingend die Eltern sein, sondern auch Großeltern oder ältere Geschwister können unterstützend begleiten. Weitere Ursachen für Underachievement sind auch mangelndes Interesse der Eltern am Fortkommen des Kindes oder als Gegensatz dazu eine überhöhte Leistungserwartung.
Nachlassende Motivation
Wenn die Anforderungen in der Schule für ein begabtes Kind nicht hoch genug sind, kann seine Motivation und sein Interesse nachlassen. Sind die Aufgabenstellungen nicht passend, weil sie sich am Leistungsdurchschnitt der anderen Kinder orientieren und diese oftmals in Bereichen Unterstützung brauchen, die dem begabten Kind leichtfallen, zieht es sich vielleicht zurück und zeigt nicht mehr was wirklich in ihm steckt. Eine niedrige Motivation kann auch durch ein negatives Selbstkonzept entstehen, das durch eine ausgrenzende oder entwertende Haltung der Umwelt oder der Eltern verursacht sein könnte. Begabte Kinder müssen von Eltern und Lehrkräften richtig und nachhaltig gelobt werden, das motiviert zusätzlich und sollte nicht unterschätzt werden.
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Wie kann man vorbeugend handeln?
Um Underachievement bei einem hochbegabten Kind vorzubeugen, sollten Eltern und Lehrkräfte Beurteilungsfehler im Hochbegabtenbereich vermeiden, d.h. eine Hochbegabung und mit ihr einhergehend eine mögliche Unterforderung erkennen und durch ein Testverfahren bestätigen oder ausschließen lassen. Zudem sollte auch begabten Schüler*innen ein individualisierter Unterricht und zusätzliche Förderung angeboten werden. Dazu gehört auch das Einüben von Lern- und Arbeitstechniken.
Lehrkräfte sollten auf erste Anzeichen von Unterforderung Hochbegabter im Unterricht achten. Mögliche Fragestellungen, die eine „Diagnose“ erleichtern:
Ist das Kind unkonzentriert bei Routineaufgaben, löst es eher schwere Mathematikaufgaben zügig?
Stört es den Unterricht durch ständiges Zwischen- und Nachfragen?
Mag es komplexere Aufgabenstellungen? Verrechnet es sich oft, obwohl der Lehrstoff verstanden wurde?
Zeigt es besondere Leistungen im außerschulischen Bereich?
Ist es auf einem Spezialgebiet ausgezeichnet (Experte), verliert die Motivation aber schnell bei Routinearbeiten?
Hat es eine schnelle Auffassungsgabe bei Einführung neuer Themen trotz Aufmerksamkeitsdefizit?
Liefert es gute Beiträge bei schwierigen Themen?
Gibt es einen deutlichen Leistungseinbruch nach früheren sehr guten Leistungen?
Verliert es sich oft in Tagträumereien?
Stört es bei sich wiederholenden Übungsaufgaben? Ist es neugierig bei neuen und herausfordernden Aufgaben?
Ist es mit den Arbeitsergebnissen nicht (leicht) zufrieden?
Nimmt es am Unterricht kaum teil, gibt bei Befragen aber korrekte Antworten?
Erledigt es langweilige Aufgaben oft unvollständig?
Es gilt für Eltern und Lehrkräfte eine Selbstwert-Fehlentwicklung zu vermeiden. Underachiever entwickeln im Verlauf des Kindes- und Schulalters ein „deformiertes“ Selbstkonzept („Drama“ hochbegabter Underachiever nach Hanses & Rost).
Mögliche Gründe für ein deformiertes Selbstkonzept im Kleinkind- und Vorschulalter können sein:
Unzureichende Bindungserfahrungen,
mangelnde Fähigkeit der Eltern, auf Kommunikationsversuche des Kindes einzugehen,
wenig bis keine Anforderungen,
schädlicher Erziehungsstil und/oder
eingeschränkte soziale Kontakte zu Gleichaltrigen.
Werkzeuge
Im Schulalter können…
- die Dominanz sozialer Bezugsnormen in der Schulklasse,
- autoritäre Strukturen,
- unzureichende Ausbildung der Fähigkeit, eigene Erfolge im Zweifelsfall eher inneren Ursachen (wie eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten) und eigene Misserfolge eher äußeren Ursachen (der Situation, dem Zufall etc.) zuzuschreiben und nicht umgekehrt,
- falsches Loben
… ursächlich für eine Fehlentwicklung des Selbstkonzepts sein.
Das Selbstbild bezeichnet in der Psychologie die Vorstellung, die jemand von sich selbst hat bzw. macht. Der Begriff des Selbstbildes deckt sich teilweise mit dem Begriff der personalen Identität, bezieht sich aber stärker als dieser auf psychische und stimmungsmäßige Aspekte und unterliegt stärkeren Wandlungen und Schwankungen. Das Selbstbild beruht auf Selbstwahrnehmung; das Fremdbild ist das Bild einer Person, wie es andere von außen wahrnehmen.
Das Selbstbild misst sich am Idealbild, also daran, wie jemand gerne sein möchte. Selbstbild und Idealbild werden im Selbstkonzept (auch: Selbstkonstruktion) zusammengefasst. Im Allgemeinen gilt, dass jeder Mensch ein im Grunde stabiles und positiv kongruentes Selbstbild anstrebt. Am Selbstkonzept wird daher oft gearbeitet, es wird teils nur mit hohem psychischen Aufwand aufrechterhalten oder verändert. Wikipedia
Der überwiegende Einsatz der individuellen Bezugsnormorientierung durch Lehrpersonen wirkt positiv auf die Schüler*innen. Hochbegabte Schüler*innen verfügen über ein breites außerschulisches Interessenspektrum, an dem Lehrpersonen anknüpfen können.
Hochbegabte können als Underachiever lernbezogen, vor allem aber sozialbezogen, ängstlich sein.
Eltern und Lehrer*innen kann empfohlen werden, dem Kind dabei zu helfen, den eigenen hohen Anspruch (Perfektionismus) zu relativieren. Sie können anhaltende Belastungen etwa durch Asynchronien geistiger, motorischer und emotionaler Fähigkeiten beachten und besondere Sensibilität für Gefahren berücksichtigen.
Etwaiger Angst vor Nichtanerkennung durch „Anderssein“ kann mit Einbettung in die soziale Gemeinschaft begegnet werden und die soziale Bezugsnorm bei der Bewertung von Leistungen weitgehend vermieden werden.
Die Leistung von Lernern kann anhand dreier Bezugsnormen eingeordnet werden:
Soziale Bezugsnorm:
Die Leistung des Lerners wird mit der durchschnittlichen Leistung seiner Lerngruppe verglichen. Damit kann eine Rangordnung der Leistungen in der Lerngruppe erstellt werden: Wer hat am besten abgeschnitten? Wer ist zweiter? Usw.
Individuelle Bezugsnorm: Die Leistung des Lerners wird mit seinen bisherigen Leistungen (in ähnlichen Tests) verglichen. Somit können beispielsweise Lernkurven eines Lerners über das Schuljahr erstellt werden.
Sachliche bzw. kriteriale Bezugsnorm: Die Leistung des Lerners wird mit einem begründeten Kriterium oder Mindestwert abgeglichen. Dabei sollten die Kriterien und Anforderungen für die Lerner auch offengelegt werden.
Um der Entwicklung eines hochbegabten Kindes zum Underachiever vorzubeugen, sollten Lehrpersonen im Idealfall folgende Kompetenzen mitbringen (nach Preckel 2007):
- Sie erkennen Bedürfnisse Hochbegabter,
- besitzen tiefgreifendes Fachwissen zur Hochbegabung,
- haben Fähigkeit, Curriculum zu differenzieren,
- ermutigen Schüler*innen unabhängig zu sein,
- schaffen begabungsfreundliches Lernumfeld,
- unterrichten schülerzentriert,
- sind enthusiastisch für Außergewöhnliches,
- handeln eher moderierend und begleitend,
- haben selbst ein breites Interessenspektrum,
- sind selbst lebenslang lernende Personen,
- besitzen exzellente kommunikative Fähigkeiten,
- sind bereit, Fehler zuzugeben,
- sind selbst gut „organisiert“
- und besitzen last but not least Sinn für Humor
Auf keinen Fall sollten Lehrpersonen wie auch Eltern…
unkonventionelle Ideen abwürgen („Das passt nicht zum Stoff“),
Neugier und Erkundungsdrang negieren („Das gehört nicht hierher.“),
eigenen Antrieb unterbinden („Was für dumme Fragen.“),
auf festgelegten „Lehrer/innen Weg“ festnageln („Hier vorn spielt die Musik.“),
neue Ideen nicht zulassen („Das stört meinen Unterricht.“),
Ideen kritisieren und abfällig werten („Unser kleiner Professor.“),
Kinder im Klassenverband isolieren („Du Spinner.“),
Sinn für Gerechtigkeit unterdrücken („Ich entscheide hier über Noten.“),
auf später vertrösten „Das verstehst du noch nicht.“, „Das lernst du später.“,
tiefgründiges Denken verhindern,
intellektuellen Witz und Humor ablehnen („Darüber kann keiner außer dir lachen.“).
Aus dem wird nichts. Überhaupt nichts. Den können Sie vergessen, ihr Sohn ist zwar intelligent, aber stinkend faul. – überliefert von meiner heulenden Mutter nach einem Elterngespräch.
Mein alter Mathelehrer, Anno 1973, fünfte Klasse. Nationalsozialistischer Restbestand kurz vor der Pensionierung, der gerne mit allen möglichen Dingen warf, im Unterricht, in Richtung derer, denen es seiner Meinung nach an Aufmerksamkeit mangelte. Ich nahm den Arsch später wörtlich, in Sachen Nichts, zuvor aber stieg ich von einer 5 auf eine 2 in Mathe.
Meine Schulzeit war eine einzige Quälerei für mich. Wie überhaupt meine ganze Kindheit und Jugend. Wenn ich die ewig-gestrigen-Gruppen bei FB a la wir in den 70ern oder so sehe, möchte ich sie schütteln. Noch mal jung? Bloß nicht 😉
L.G., Reiner
Danke für deine Offenheit. Es berührt mich sehr wie unsere Erfahrungen gleichen. Ich weiß, dass es vielen so ergangen ist. Das Schlimmste ist aber, dass es heute noch vielen Schülern so geht.