Man muss wissen: Hochbegabung ist die Disposition für herausragende Leistungen und nicht die Hochleistung selber.
Demnach sind sehr gute, fleißige Schüler*innen nicht zwangsläufig hochbegabt und schlechte nicht zwangsläufig „dumm“. Eine Hochbegabung setzt sich zusammen aus sehr guter Motivation, Kreativität und überdurchschnittlichen Fähigkeiten auf einem oder mehreren Gebieten. Sie kann nur unter bestimmten Umständen zu Höchstleistungen führen.
Familie, Kindergärten, Schulen müssen Bedingungen schaffen, in denen besonders begabte Kinder und Jugendliche sich ihrer Begabung entsprechend entwickeln können. Es sind also meist weit überdurchschnittliche Fähigkeiten und Interessen, die hochbegabte Kinder kennzeichnen, wobei sie Gleichaltrigen auf Gebieten, wie den logisch-mathematischen, den sprachlichen, den musikalischen, den bildnerisch-künstlerischen, den sportlichen oder den sozialen Bereichen deutlich voraus sind. (Stangl, 2021).
Was ist nun genau Hochbegabung?
Die Definition von Hochbegabung orientiert sich an einem Intelligenzquotienten (IQ) von mindestens 130. Dieser wird mit Hilfe von Tests festgestellt, die entweder die auf erworbenem Wissen basierende Intelligenz oder die wissensunabhängige, allgemeine Denkfähigkeit erfassen. Die Intelligenz-Verteilung in der Bevölkerung stellt sich wie folgt dar (vgl. Holling et al., 2004): Der durchschnittliche IQ liegt bei 100, 2% der Bevölkerung sind hochbegabt, haben also einen IQ von mindestens 130.
Mein Kind hat ein Ergebnis leicht unter 130…
Auch ein Kind, das einen IQ von leicht unter 130 erreicht, kann hochbegabt sein. Je nach Form und Art der Auswertung eines IQ-Tests kann es zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Ein Test beispielsweise, der aus mehreren Untertests besteht, kann durch Mitteln der einzelnen Ergebnisse ein verfälschtes Bild darstellen. Der sachkundige Tester wird immer die einzelnen Untertests separat auswerten und deuten. Auch die Art des Tests, z.B. ob er auf erworbenem Wissen basiert (kristalline Intelligenz) oder die allgemeine Denkfähigkeit (fluide Intelligenz) erfasst, kann bei einem Kind Schwankungen im Messergebnis hervorbringen.
Ein weiterer Aspekt ist die Tatsache, dass ein Test auch immer die Leistung bewertet und diese kann je nach Tagesform des zu testenden Kindes deutlichen Schwankungen unterliegen. Kurz gesagt: Erwischt man bei dem Kind einen schlechten Tag, ist auch das Ergebnis schlechter. Wichtig ist, dass eine Testung immer von einer Fachperson durchgeführt wird. Das abgleichen von irgendwelchen Checklisten im Internet ist nicht zielführend.
Mein Kind ist verhaltensauffällig und langweilt sich – ist es hochbegabt?
Immer wieder vermuten Eltern, ihr Kind sei hochbegabt, und erklären schlechte Leistungen und Verhaltensauffälligkeiten in der Schule mit Langeweile und fehlenden Kompetenzen der Lehrkräfte.
Grundsätzlich haben schlechte Leistungen und Verhaltensauffälligkeiten eines Kindes vielschichtige Ursachen und können symptomatisch für allerhand andere Störungen (z.B. ADHS) sein. Langeweile hat wohl jeder Schüler gelegentlich, alleine daraus eine Hochbegabung zu schließen ist mehr als fragwürdig.
Hochbegabung wird, wie oben schon erwähnt, mit einem IQ von über 130 definiert, etwa 2% der Bevölkerung gehören in diese Gruppe, das sind etwa 2 von 100 Kindern. Nur ein relativ kleiner Teil der hochbegabten Kinder zeigt wiederum Symptome dieser Art.
„Aus meiner Erfahrung sind unterforderte und gelangweilte hochintelligente Kinder meistens eher unauffällig und dümpeln mit ihren oftmals guten, aber nicht unbedingt sehr guten schulischen Leistungen unter ihrem Niveau dahin.“ A.B.
Trotzdem können schlechte Leistungen und Verhaltensauffälligkeiten durchaus auch Symptome für Unterforderung sein. Wenn bei einem Kind eine starke Diskrepanz zwischen den schulischen Leistungen und seiner Leistungsfähigkeit in anderen Bereichen sichtbar ist und aus Langeweile beispielsweise zum „Klassenclown“ wird, könnte eine Hochbegabung vorliegen und es empfiehlt sich in diesem Fall einen Test machen zu lassen, um Klarheit zu gewinnen.
Ist die Lehrkraft inkompetent?
Diese feinen Unterschiede zu erkennen, ist im häuslichen Bereich einfacher als in der Schule. Eltern können sich eher ein Bild machen, ob ihr Kind z.B. schon von klein auf sehr wissbegierig war und an vielerlei Dingen interessiert ist, wobei es ganz natürlich ist, dass ihnen in der Beurteilung ihrer Kinder Objektivität fehlen dürfte.
Nun, man mag es Eltern nachsehen, dass sie ihren Kindern lieber eine hohe Intelligenz als Verhaltensauffälligkeiten wegen etwaiger Entwicklungsstörungen oder gar Erziehungsfehlern zuschreiben. Ebenso ist es durchaus nachvollziehbar, dass die Lehrkraft bevorzugt verantwortlich gemacht wird, als eigenes „Versagen“ zuzugeben.
Lehrer*innen haben in ihrer Ausbildung gelernt, Kinder über Leistungen zu beurteilen und sind aus vielerlei Gründen nicht immer in der Lage Minderleister zu identifizieren. Wenn diese Kinder dann noch den Unterricht durch ihr Verhalten stören, ist das Negativbild perfekt und eine eventuell vorliegende Hochbegabung wird sicher nicht immer erkannt. Insofern könnte der einen oder anderen Lehrkraft tatsächlich auch Inkompetenz vorgeworfen werden.
Förderung, muss das sein?
Die Aussage, hochbegabte Kinder würden sich von allein gut entwickeln und keine zusätzliche Förderung benötigen, ist schlichtweg nicht richtig.
Lange Zeit ging man davon aus, dass Intelligenz in der Familie läge, angeboren und nicht zu steigern sei (Entitiätstheorie). Viele Studien belegen allerdings, dass Intelligenz nicht statisch, sondern ein dynamischer Prozess ist (Modifizierbarkeitstheorie). Demnach ist die Höhe der Begabung genetisch nicht genau festgelegt und um Begabung zu entfalten, ist Lernen erforderlich.
Je mehr man lernt, um so mehr wird man lernen können. Das heißt also nichts anderes, als dass man das Gehirn „füttern“ muss, damit es sein Potential nutzen und erweitern kann. Ein hochbegabtes Kind muss also ein entsprechendes Angebot erhalten, um seine Fähigkeiten voll auszuschöpfen und zu erweitern.
Zum anderen reicht es nicht, entsprechende Begabungen zu haben, es sind auch Eigenschaften wie Disziplin und Ausdauer nötig, um diese erfolgreich nutzen zu können. Ich vergleiche das gerne mit der Begabung, Klavier zu spielen – ohne Üben wird auch ein begnadeter Mensch keine Erfolge erzielen. Auch ein hochbegabtes Kind benötigt Struktur und Anleitung, muss üben und trainieren und den Willen haben, erfolgreich zu sein. Es ist also durchaus sinnvoll, das Kind zu fördern, damit es seine Begabungen voll ausschöpfen kann. Ein nicht gefördertes, nicht angeregtes und angeleitetes hochbegabtes Kind wird u.U. langfristig sein Potential nicht nutzen können oder es schlimmstenfalls sogar einbüßen (s. meinen Beitrag „Underachiever: Was ist ist das nun wieder?“).
„Meine einschlägigen Erfahrungen zeigen, dass es nicht ausreicht, ein Kind testen zu lassen und dann zu denken, das wird schon – ist ja ein intelligentes Kind.“ (A.B.)
Dringend notwendig ist es, den Eltern, Erzieher*innen und Lehrern*innen auf die Sprünge zu helfen, damit das hochbegabte Kind eine individuelle Förderung erhält. Auch ich habe nach der Testung damals erst einmal gedacht, dass die spezielle Förderung meines hochbegabten Kindes nicht notwendig ist, aber schnell gemerkt, dass das Potential nur genutzt werden kann, wenn es genügend Anregung, Begleitung und Struktur seitens der Eltern und der Schule gibt.
Mein Kind wurde mit sechs Jahren getestet und wir haben als Eltern Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, einerseits durch einen Schulwechsel, andererseits durch ein zusätzliches Angebot der Hochbegabtenförderung e.V. seiner Begabung Rechnung zu tragen. Das war im Jahr 1998 nicht wirklich leicht.
Leider habe ich damals die zweite Diagnose neben der Hochbegabung, nämlich die ADHS mehr oder weniger ignoriert, was uns dann später in der weiterführenden Schule fürchterlich auf die Füße gefallen ist. (Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man herzhaft lachen – die Mutter ein Underachiever (Minderleister) mit ADHS und das Kind hochbegabt mit ADHS und ebenfalls bis zum Studium ein Underachiever. (Zum Thema (hochbegabte) Underachiever folgt ein separater Beitrag.). A.B
… aber wie genau fördern?
Man unterscheidet bei der Förderung Hochbegabter zwischen Akzelerations- und Enrichment-Angeboten. Akzeleration bedeutet, dass ein Kind den Lernplan schneller durchläuft, etwa durch Überspringen einer Klasse. Man möchte durch ein zügigeres Durchlaufen einen zusätzlichen Lernanreiz geben und Unterforderung vorbeugen. Allerdings wollen nicht alle Schüler*innen dieses Angebot nutzen, da sie ihre sozialen Bindungen in der Klasse verlieren könnten oder Angst haben, als „Streber“ ausgegrenzt zu werden.
„Mein Kind sollte in der Grundschule auf Anraten der Klassenlehrerin die 3. Klasse überspringen, was es vehement ablehnte. Die Angst war zu groß, seine Freunde und die gewohnten Strukturen zu verlieren. Es hat lieber in Kauf genommen, sich ab und an zu langweilen und verträumt aus dem Fenster zu sehen.“ A.B.
Enrichment bedeutet das Anreichern des regulären Lernplans z.B. mit speziellen Förderangeboten für Hochbegabte. Enrichmentprogramme sie darauf ausgelegt, komplexes Lernen, nachhaltige Entdeckerlust und hohe Leistungen zu fördern. Das „Drehtürmodell“ nach dem Erziehungspsychologen Joseph Renzulli ist zum Beispiel ein solches Enrichment-Angebot. Im Schulkontext soll es vergleichsweise vielen Schülerinnen und Schülern durch gezielte organisatorische Strukturen die Möglichkeit geben, neben dem regulären Unterricht zusätzliche Angebote wahrzunehmen, um so ihren Interessen besser gerecht zu werden und ihre individuellen Potenziale entfalten zu können.
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Für Interessierte:
Stangl, W. (2021). Stichwort: ‚Hochbegabung – Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik‘.
WWW: https://lexikon.stangl.eu/174/hochbegabung/ (2021-05-20)