Wenn man – so wie ich – in Schulen und Familien mit Migrationshintergrund unterwegs ist, denkt man zwangsläufig über die Kinder mit Fluchterfahrungen nach. Man weiß nicht, was die Kinder vor und/oder während der Flucht erlebt haben und ob sie nachhaltig traumatisiert sind.
Selbst nach der Flucht, im sicheren Land, können Traumata entstehen. So hat z.B. ein Kind, das ich betreue, Angst vor lauten Stimmen, weil im Übergangswohnheim alle Geflüchteten dicht an dicht untergebracht waren und lautstarke Konflikte die Kinder nachts nicht schlafen ließen. Spricht jemand außergewöhnlich laut oder schreit sogar, hält sich das Kind an seiner Mutter fest, als wenn sein Leben bedroht wäre.
Wichtig ist zu wissen, dass traumatische Ereignisse einen ungünstigen Einfluss auf die Entwicklung eines Kindes haben können. Das heißt in der Praxis, dass der aktuelle Entwicklungsstand eventuell nicht dem Alter angemessen ist. Zum Beispiel können Traumata dazu führen, dass die Kinder die Fähigkeit verlieren, bisher Erlerntes wiederzugeben – dazu gehört auch ihre Erstsprache. Das traumatisierte Kind verliert im wahrsten Sinne des Wortes seine Sprache. Sprachschwierigkeiten sind die Regel und erschweren die Kommunikation. Man muss sich vorstellen, dass ein Kind, das noch nicht einmal den Spracherwerb der Erstsprache abgeschlossen hat, nun mit einer zweiten Sprache konfrontiert wird.
Am Ziel angekommen befinden sich die Flüchtenden plötzlich inmitten einer anderen Kultur. Hier gelten andere Werte und Normen. Diese müssen sich jüngere Kinder, die das Hineinwachsen in die Kultur ihres Herkunftslandes (Enkulturation) noch nicht abgeschlossen haben, nun plötzlich aneignen (Akkulturation). War die Fluchterfahrung traumatisierend, kann es sein, dass die betroffenen Kinder sich als eine Art Sebstschutz eine Strategie aneignen – sie sprechen nicht. Diese dient dazu, Gefühle zu deaktivieren. Sie sind es nicht gewohnt, selbstbewusst am sie umgebenden Geschehen mitzuwirken und reagieren mit Sprachlosigkeit. Ebenso kann sein, dass ein nicht sprechendes Kind sich in einer Anfangsphase des Zweitspracherwerbs befindet. Das bedeutet, es versteht mehr als es sprechen kann.
Durch eine starke Beziehung, die Vertrauen schafft, durch stabile Strukturen und Sicherheit sowie sensiblen, geduldigen Umgang mit dem Kind kann es seine Sprache wiederfinden.
One thought on “Traumatisierte Kinder: In doppeltem Sinne sprachlos”