Kinder mit Fluchterfahrung: Plötzlich ist alles fremd

Die Begleitung von Kindern mit Fluchterfahrungen stellt in der Sozialarbeit und Pädagogik eine besondere Herausforderung dar. Es ist mir ein Anliegen, in dieser schnelllebigen Zeit mit täglich neuen Meldungen und Herausforderungen die Schwächsten in unserer Gesellschaft – nämlich die Kinder und da besonders die benachteiligten – Kindersichtbar zu machen. Dazu gehören zunehmend auch die Kinder der Geflüchteten.

Ende 2020 gab es laut Zahlen des UNHCR weltweit 26,4 Mio. Flüchtlinge und 48 Mio. Binnenvertriebene (aufgrund von Konflikten). 10 % aller Flüchtlinge weltweit und nur ein Bruchteil der binnenvertriebenen lebten Ende 2020 in der EU. Der Anteil der Flüchtlinge in der EU liegt bei 0,6 % der Gesamtbevölkerung. 2019 wanderten 2,7 Millionen Menschen in die EU ein und 1,2 Millionen Menschen aus. (Zahlen der EU-Kommission)

Es ist wichtig Bildung als Schlüssel zur Chancengleichheit zu begreifen und den Umgang mit (kultureller) Vielfalt vorurteilsfrei und positiv zu gestalten. Dadurch werden das Selbstwertgefühl der Schüler*innen gestärkt und wichtige Ressourcen für die Gesellschaft gehen nicht verloren.

Kein Zuhause, keine Freunde, keine Sprachkenntnisse

Es ist mir ein großes Anliegen, ein besonderes Augenmerk auf Kinder mit Fluchterfahrungen, also mit traumatischen Erlebnissen, zu werfen. Dazu ist es wichtig, einmal den Blick auf die Lebenssituation der Flüchtlingskinder zu richten. Kommen sie mit oder zu ihren Familien nach Deutschland, werden sie in Erstaufnahmeeinrichtungen und später eventuell in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht.

Man muss sich vorstellen, dass diese Kinder ihr Zuhause verloren und keine Freunde mehr haben. Sie haben keine deutschen Sprachkenntnisse, kaum Spielzeug und wenig Raum, in dem sie sich kindgerecht frei bewegen können. Die unsichere Bleibeperspektive ist eine sehr belastende Situation der ganzen Familie und fördert zusätzliche Ängste. Etwas anders stellt sich die Situation für unbegleitete Kinder und Jugendliche dar, da diese durch das Jugendamt in Obhut genommen werden.

Symbolbild großer und kleiner Junge halten sich an den Händen.

Wir wissen nicht, was die Kinder vor und/oder während der Flucht erlebt haben und ob sie nachhaltig traumatisiert sind. Sprachschwierigkeiten erschweren die Kommunikation, man kann nur erahnen, welche Erlebnisse auf die Kinder eingewirkt haben. Wichtig ist zu wissen, dass traumatische Ereignisse einen ungünstigen Einfluss auf die Entwicklung eines Kindes haben können. Das heißt in der Praxis, dass der aktuelle Entwicklungsstand eventuell nicht dem Alter angemessen ist. Auch können Verhaltensauffälligkeiten wie plötzliche Verhaltensänderungen oder Gefühlsschwankungen in Folge von Schlüsselreizen auftreten. Das alles erfordert einen sensiblen, empathischen und geschulten Umgang mit den Kindern.

Einfühlsame Begleitung vorrangig

Bei der Arbeit mit durch Flucht benachteiligten Kindern sehe ich unsere Aufgabe vorrangig in ihrer einfühlsamen Begleitung mit dem Ziel, dass sie in ihrem neuen Lebensbereich und damit auch in unserem Bildungssystem ankommen, sich wohl und sicher fühlen und motiviert ihre eigenen Ziele erreichen können. Ich sehe dies als Voraussetzung für eine erfolgreiche Schullaufbahn. Vorurteilsbewusste Sprache sowie Offenheit für fremde Kulturen bilden dabei die Grundlage. Folgende Punkte sollten dabei Berücksichtigung finden:

  • Die konstruktive Zusammenarbeit mit den beteiligten Lehrkräften, Erzieher*innen und Eltern/Familienangehörigen ist sehr wichtig, ebenso das informelle Gespräch vorab und zwischendurch.
  • Zur professionellen Begleitung des Zweitspracherwerbs stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, um eine Sprachbarriere zu überwinden. Dazu gehören z. B. Kleine Suchspiele (Suchsel) zur Festigung neuer Vokabeln oder auch Fachbegriffe, selbstgebasteltes Domino zur Erweiterung des Wortschatzes oder selbstgenerierte Kreuzworträtsel, die Wissen abfragen oder auch zur Lösung mathematischer Aufgaben dienen können. Zur Wiederholung aktueller Lerninhalte eigenen sich Lückentexte und Memory-Spiele sehr gut. Zur Abfrage von Wissen eignen sich Mindmaps sehr gut und zur Festigung des Wortschatzes und von Inhalten Silbenrätsel, Wortschlangen und Wortkarten. Zur Festigung von typischen Satzstrukturen im Deutschen ist ein Textpuzzle gut geeignet.
  • Da durch traumatische Erfahrungen Störungen in der Entwicklung des Kindes entstehen können, sollte man ein besonderes Augenmerk auf den aktuellen altersgerechten Stand der Entwicklung des Kindes haben. Grundlage hierfür sind die altersgerechten Entwicklungsaufgaben in den entsprechenden Altersphasen. Es ist mir wichtig, das Kind dort abzuholen, wo es steht und nicht wo es stehen sollte.
  • Die betroffenen Kinder können u.U. besondere Verhaltensweisen zeigen, die durch Schlüsselreize (Trigger) ausgelöst werden. Z.B. kann das Kind plötzlich abwesend wirken und ein Gespräch oder eine Handlung wird unterbrochen. Ebenso sind Abweichungen von den Regeln oder Gefühlsausbrüche denkbar. In diesen Fällen hilft ein geeignetes Repertoire, das Kind zu beruhigen und ihm zu helfen, ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Bleibe ruhig und bringe Geduld auf, dem von der Norm abweichenden Verhalten zu begegnen und verleihe dem Kind Sicherheit und Stabilität durch vorhersehbares Verhalten.
  • Die Begabungen und Fähigkeiten anvertrauten Kinder sollten im Mittelpunkt stehen.
  • Wichtig ist die Förderung der psychischen Widerstandskraft der Kinder. Resilienz schützt sie vor kommenden möglichen Traumata und ihren Folgen und wird durch kontinuierlich anwesende Bezugspersonen erreicht. Zeigen wir dem Kind eine wertschätzende Haltung, geben ihm die Möglichkeit positive oder negative Gefühle zu äußern. Ich befürworte eine Fehlerkultur, damit das Kind aus ihnen lernen und selbst Lösungsstrategien entwickeln kann. Wenn sich das traumatisierte Kind unwohl fühlt und sich deswegen nicht konzentrieren kann, können resilienzstärkende Methoden wahre Wunder bewirken.

Kinder mit Flucht-/Migrationshintergrund sind oftmals mit Formen der Diskriminierung und Stigmatisierung konfrontiert. Achten wir doch alle – nicht nur Lehrer und Erzieher – auf etwaige Äußerungen in der Umgebung und besprechen diese sofort, wenn diese abdriften. Ebenso sollten wir immer wieder die eigene Haltung und die Art wie wir sprechen überprüfen, um eventuelle Vorurteile zu erkennen und zu entkräften.

Für die pädagogische Arbeit entscheidend: Stabilität und Sicherheit

Jedes traumatisierte Kind reagiert nach extrem belastenden Lebensereignissen anders. Nicht immer wird es möglich sein, ein eventuelles Trauma während des pädagogischen Arbeitens zu erkennen. Dennoch haben wir die Möglichkeit – unabhängig davon ob ein Kind trauert, traurig oder traumatisiert ist – eine praktische Hilfestellung im (Lern-)Alltag anzubieten. Ihre pädagogische Arbeit sollte aus diesem Grund Sicherheit und stabile Strukturen bieten. Es sind dies z.B.:

  • Kontinuität,
  • Rituale (immer gleich und wiederholt),
  • vorurteilsbewusstes Handeln und Sprechen,
  • Versprechungen einhalten,
  • auf Veränderungen vorbereiten,
  • ehrliches Mitgefühl,
  • Gefühle des Kindes akzeptieren,
  • auf extremes Verhalten einfühlsam reagieren,
  • bei hohem Stresspegel Hilfe anbieten,
  • klare Regeln, Ansagen und Vorgaben machen.

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