Erwachsene mit ADHS: Ein Leben voller Stolpersteine

Bis zu meiner späten Diagnose fühlte ich mich zeitweise „wie im falschen Film“. Impulsivität und Hyperaktivität sowie ein förmlich überschäumendes Gehirn haben mich in manche Misslage gebracht, die vor allem im sozialen Kontext teilweise zur Katastrophe führte. Nein, das ist nicht übertrieben. Dazu kam, dass ich keine Ahnung hatte, was mich dazu brachte, chaotisch, auffällig und von unbekannten Kräften getrieben so neben der Spur zu laufen. Zeitweise hatte ich alles im Griff, aber dann kamen wieder Situationen, in denen mein ADHS voll zuschlug. Das Gegenteil bekam die Welt auch zu spüren: Masking. Ich habe so stark maskiert, dass man mich für „arrogant“ und überheblich hielt. Auch da hatte ich kein Maß und Ziel mit entsprechenden Schwierigkeiten mit meiner Umwelt. Mein Selbstwertgefühl lag häufig so am Boden, dass ich – vor allem in jungen Jahren – nicht mehr leben wollte. Heute weiß ich besser warum das so war. Ich hatte im Laufe der Jahre immer besser gelernt, mich der neurotypischen Welt anzupassen, fühlte mich dabei aber so falsch, dass es zu wahren Ausbrüchen kam, sobald ich die Überforderung spürte. Ungesteuerte Impulsivität in Form von wahren Ausrastern und nachfolgnden Depressionen führten mich letztendlich zum Psychiater und schließlich zur Diagnose ADHS.“ (A.B.))

Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, in der Schule und mit Mitmenschen

Bei all den Problemen, die ein Mensch mit ADHS hat, ist es verständlich, dass es hier zu erheblichen unangenehmen Situationen kommt. Oft fühlen sich die Betroffenen gemobbt, weil sie mit ihrer Impulsivität und Stimmungsschwankungen anecken und die inkonstanten Leistungen führen zu erheblichen Problemen am Arbeitsplatz. Nicht selten erkranken auch die Partner und Angehörigen an Depressionen und psychosomatischen Erkrankungen, denn es ist sehr belastend, mit den täglichen Stimmungsschwankungen und dem Chaos umzugehen.
Es zeigt sich eine Vervierfachung der Scheidungsrate, wenn ein Familienmitglied von ADHS betroffen ist. Erschwert wird dies noch durch die hohe Erblichkeit, so dass oft noch ein Elternteil, ggf. auch beide Eltern, zusätzlich betroffen sind, was die Probleme potenziert. In solchen ADHS-Chaos-Familien kann es in Stresssituationen auch zu körperlichen Auseinandersetzungen kommen. Alleinerziehende gelangen sehr schnell an ihre Belastungsgrenze.

Schnelle Erschöpfbarkeit und Lustlosigkeit

Das Durchhaltevermögen und die Selbstmotivation sind stark eingeschränkt, was zu schneller Resignation und Mutlosigkeit führt. ADHS-ler besitzen einen riesigen »inneren Schweinehund«, den sie nur sehr schwer für Aufgaben überwinden können, die sie nicht interessieren.

Daraus resultieren erhebliche Selbstzweifel und ein mangelndes Selbstbewusstsein. In den meisten Biographien der betroffenen Patienten zeigen sich eine Ansammlung von traumatischen Erfahrungen. Oft sind schon die Familien sehr problematisch und die Kinder haben früh die Erfahrung gemacht, dass sie nicht lernen konnten, vergesslich waren und in der Schule schlechten Noten hatten. Waren sie auch noch hyperaktiv, haben sie meist Ablehnung von anderen erfahren und sind in eine Außenseiterposition geraten. Die bisherige Lebenserfahrung in der Kindheit war dann: »Ich bin dumm und werde abgelehnt«. Das ist keine gute Voraussetzung für die Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühls.

Komorbiditäten und begleitende Symptome

Weiterhin gibt es zahlreiche Komorbiditäten oder assoziierte Erkrankungen (Begleiterkrankungen), die die Symptomatik abermals verschärfen. Dazu gehören

  • Leserechtschreibstörung
  • Rechenschwäche bis zu 30%
  • Tic-Syndrom (Tourette) 10-20%
  • Zwänge
  • hohe Unfallrate (durch unüberlegtes Handeln)
  • Störung des Sozialverhaltens und oppositionelle Verhaltensweisen
  • Schlafstörungen
  • Suchtentwicklung

Hinzu kommt dann im Erwachsenenalter der Symptomshift.

Ca. 30% der Erwachsenen ADHSler leiden unter Ängsten und Depressionen.

Es besteht ein hohes Risiko für eine spätere Suchtentwicklung. Die Zahlen variieren. Bis zu 50% der Alkoholiker haben deutliche Hinweise auf eine schon in der Kindheit bestehende ADHS (vgl. Heßlinger, Freiburg; Huss, Berlin). Es zeigt sich oft ein erheblicher Nikotinmissbrauch, da wahrscheinlich exzessiver Nikotinmissbrauch eine Art Selbstmedikation darstellt (wie andere Süchte auch), weil Nikotin auch am Dopamintransporter angreift und so das ursächliche Dopamindefizit korrigiert wird. Weiterhin zeigen sich vermehrt alle Formen der Sucht: Esssucht, Kaufsucht, Kleptomanie, Spielsucht usw..

Oft sind die Betroffenen sehr verschuldet, weil sie keinen Überblick über ihre Finanzen haben und sich keinen Plan machen können.

Auch neigen sie dazu, riskant Auto zu fahren oder riskante Sportarten zu betreiben, sie suchen immer nach dem ultimativen Kick und nach Abwechslung. Sie bleiben auch als Erwachsene unfallgefährdet; es sind die Menschen, die mit 200 km/h auf die Stoßstange des Vordermanns auffahren, weil dieser nicht rechtzeitig Platz macht.

Ich möchte nicht versäumen darauf hinzuweisen, dass ADHS auch viele positive Aspekte hat. Die Betroffenen sind originelle, kreative Menschen, oft die unbequemen mutigen Vordenker, weil sie sich nicht an Regeln halten und alles in Frage stellen können. Es gibt viele erfolgreiche Menschen mit ADHS ohne Krankheitswert, als Normvariante im Sinne einer »bestimmten Art zu sein«. Wenn diese Menschen für sich die richtige berufliche Nische gefunden haben, sind sie häufig genial und unschlagbar in ihrem sprühenden Eifer und ihrem unermüdlichem Aktionismus. In den Medien oder als Computerfachleute finden wir sie häufig als high-functioning ADHS-ler, sehr geschätzt, aber anstrengend für ihre Mitmenschen.

ADHS ist immer wieder ein Phänomen, das sich zwischen Genie und Wahnsinn bewegt, übergangslos vom hochbegabten »zerstreuten Professor« oder dem eloquenten Entertainer bis hin zu einem schwer gestörten chaotischen und gescheiterten Menschen, der an seinen vielen Misserfolgen zerbricht.

Behandlungsbedürftig wird die ADHS immer erst, wenn es zu erheblichen Schwierigkeiten im Arbeits- oder Beziehungsbereich kommt oder eben bei Depressionen und Suchtentwicklung. Deswegen ist es notwendig, ganz besondere Therapieprogramme anzubieten, eventuell auch eine Stimulanzientherapie, die sich seit 60 Jahren bei den ADHS-Kindern bewährt hat. Hier zeigen sich ebenfalls neue Ansätze bei der Suchttherapie.

Die Diagnose und die Kenntnisse über ADHS sind wichtig, weil herkömmliche Therapien, besonders psychoanalytische und aufdeckende Therapien bei ADHS nicht wirkungsvoll sind. Häufig handelt es sich bei den Patienten auch um so genannte Therapieversager, denn sie haben schon eine Odyssee von Behandlungen hinter sich. Weder Antidepressiva, noch Neuroleptika haben ihnen wirklich gegen Depressionen, quälende Unruhe, Chaos und Konzentrationsstörungen helfen können. Vielleicht haben sie das Krankheitsbild sogar verschlimmert, weil der Patient noch ein paar Baustellen mehr hat, aber immer noch keinen Überblick und keine Struktur im Leben. Notwendig ist ein Therapiekonzept, das auf die Problematik und die besonderen Probleme der ADHS abgestimmt ist.

Hierzu gibt es verhaltenstherapeutische Programme, z. B. von PD. Bernd Heßlinger (Universitätsklinik Freiburg). Im Vordergrund steht hier die Problematik der Selbstorganisation und der Selbstkontrolle. Es geht um die Vermittlung von konkreten Gebrauchsanweisungen und Problemlösestrategien, sowie den Umgang mit den spezifischen Problemen. Oft ist es für die Patienten schon ungemein entlastend, dass dieses Phantom einen Namen hat, nämlich ADHS. ADHS-Patienten können so die Erfahrung machen, dass sie nicht alleine betroffen sind. Das ADHS-Modul von Freiburg bietet auch den großen Vorteil, dass es nicht in Einzeltherapie vermittelt wird, sondern in einer Gruppe mit anderen von ADHS Betroffenen. Der Erfahrungsaustausch entlastet die Patienten, die ja viele schmerzhafte Erfahrungen damit gemacht haben, dass sie anders sind und abgelehnt wurden.

Es hilft auch ungemein sich mit seiner Vergangenheit zu versöhnen: »Ich hatte es schwer mit ADHS und meine Eltern auch…« Und so werden manche heftigen Entgleisungen von allen Beteiligten im Nachhinein versteh- und verzeihbarer.

Oft ist eine Depression Spitze des Eisbergs

Im Erwachsenenalter zeigen sich Krankheiten der Erwachsenenpsychiatrie, die ohne Kenntnisse der ADHS sich nicht einfach erschließen lassen und oft fehlbehandelt werden. Es genügt nicht, nur die Sucht oder die Depression zu behandeln, weil damit eben nicht das gesamte Spektrum der ADHS erfasst werden kann, sondern nur die Spitze des Eisberges, der aus dem Wasser ragt. Unter der Wasseroberfläche aber zeigt sich die ADHS als Phantom, das unbedingt bei der Therapieplanung mit berücksichtigt werden sollte. Häufige Fehldiagnosen sind Borderlinestörungen oder manisch-depressive Erkrankungen.

Wichtig ist das soziale Umfeld

Es handelt sich bei ADHS immer um eine Störung, die schon in der Kindheit vorhanden war. Man muss dies genau erfragen. Es gibt keine erworbene ADHS. Natürlich zeigt jeder Mensch Symptome einer ADHS, aber es geht darum, dass man dieses komplexe Syndrom zu großen Teilen und auch im ganzen Verlauf des Lebens erfüllt und es dadurch zu erheblichen Beeinträchtigungen kommt. Wichtig erscheint noch, dass Mütter bzw. Eltern keine Schuld haben und es sich nicht um einen Erziehungsfehler handelt. Oft haben Eltern allerdings auch eine ADHS, und so fällt es ihnen besonders schwer den Kindern Struktur zu geben, klar und konsequent zu erziehen.

ADHS kann allerdings durch günstige Faktoren beeinflusst werden. Hierzu zählen engagierte Eltern, die sich intensiv mit dem Krankheitsbild auseinandersetzen, Stabilität geben können, berechenbar und geduldig sind und Ressourcen haben, um das Kind zu unterstützen.
Ungünstige soziale Faktoren sind schwieriges Milieu, überforderte, impulsive Eltern, Arbeitslosigkeit und Sucht in der Familie. Unter derartigen Bedingungen kann es auch zu kriminellen Entwicklungen kommen.

ADHS ist ein gut zu behandelndes Krankheitsbild, wobei selbst Fachärzte bisher nur wenig Kenntnisse darüber haben. Viele Fehlbehandlungen, viele Misserfolge, aber auch viele Kosten könnten mit dem Wissen darüber vermieden werden.

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